„Da sind Letzte, die werden Erste sein, und da sind Erste, die werden Letzte sein!“
August 23, 2022

„Da sind Letzte, die werden Erste sein, und da sind Erste, die werden Letzte sein!“

Bei diesem Vers aus dem Lukasevangelium muss ich an Abdullah al-Qwabani denken, der bei der Leichtathletik WM 2015 in Peking beim 5000-Meter-Lauf zwar als Letzter über die Ziellinie lief, von den Zuschauern aber wie der Sieger bejubelt wurde. Er hatte den Lauf barfuß absolviert. Oder umgedreht erinnere ich mich an den Schwimmstar Ryan Lochte, der bei den olympischen Spielen in Rio eine Goldmedaille gewann, sich dann aber mit einer Lügengeschichte sämtliche Sympathie und Anerkennung verscherzte.

Beide Geschichten lassen mich entdecken: ob jemand Erster oder Letzter ist, das ist manchmal ziemlich relativ. Und doch bleibt dieser Satz aus dem Lukasevangelium den Jesus gesprochen hat, sperrig. Bleibe ich noch einmal beim Sport: Da hat sich eine Sportlerin jahrelang gequält, Stunde um Stunde trainiert, auf Vieles verzichtet um einmal auf dem Siegerpodest ganz oben zu stehen und dann soll sie auf die letzten Plätze zurück? Das wäre doch tatsächlich ungerecht!

Um Jesu Aussageabsicht heute zu verstehen, muss ich mich fragen: Wer waren denn die Ersten und Letzten zurzeit Jesu? Zu den Ersten zählten sich damals die Pharisäer und Schriftgelehrten, die zur Oberschicht gehörten. Sie hatten alle Möglichkeiten, die über 600 religiösen Einzelvorschriften zu befolgen und meinten damit ein gottgefälliges Leben zu führen und den Himmel bereits für sich gepachtet zu haben. Auf der anderen Seite waren da die Kranken und die Armen, wie die Witwe von der Jesus einmal erzählt, die nur ein paar Pfennig in den Opferkasten warf, die damit aber eben „alles“ gegeben hatte. Solche Menschen, die wegen ihres Kampfes ums tägliche Überleben gar nicht alle Vorschiften einhalten konnten, wurden damals als Letzte verachtet. In genau diese Denkweise hinein stellt Jesus seinen provokanten Maßstab: „Da sind Letzte, die werden erste sein, und da sind erste, die werden Letzte sein!“ Nicht Leistung und nicht der soziale Stand zählen. Gott sieht das Herz. Und bei ihm gelten anderer Maßstäbe als die äußerlich sichtbare Leistung.

Sind wir nicht heutzutage auch schnell dabei, mit unseren Maßstäben Menschen in Schubladen einzusortieren: Gut – böse, gesund – krank, normal – unnormal, würdig – unwürdig, erste – letzte?

Ich glaube, das Wort Jesu von heute möchte einladen, über unsere eigenen Maßstäbe und Urteile anderen gegenüber neu nachzudenken. Und falls ich von mir selbst eine geringe Meinung habe, könnte die Frohe Botschaft mir auch sagen, dass Gott mich sicher ganz anders sieht.

 

 

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Nils Neudenberger

Gemeindereferent, Seniorenpastoral im Dekanat Schwäbisch Hall

Referent für Seniorenpastoral im Dekanat Schwäbisch Hall

 

 

Nils.Neudenberger@drs.de