Es geht um Leben oder Tod – was tun?
April 2, 2022

Es geht um Leben oder Tod – was tun?

Eine lebens-bedrohliche Situation im Johannesevangelium. „Steinigung sagt das Gesetz. Was sagst Du?"

Wer kennt das nicht: Unter einem wirklich guten YouTube-Video sammeln sich viele herablassende Kommentare, die sich auf die Herkunft oder das Geschlecht des YouTubers beziehen. Den Inhalt des Videos scheint niemand mehr zu beachten. Hass im Internet oder wie es Neu-Deutsch oft heißt „Shitstorm“ kennt auch der Fußball und die Politik. Spieler mit schlechten Leistungen, unbeliebte Funktionäre und verspottete Politiker werden in den Sozialen Medien offen beschimpft und beleidigt.

Auch das Johannesevangelium kennt so eine bedrohliche Situation. Es geht um Leben und Tod. Die Schriftgelehrten bringen eine Frau zu Jesus, die beim Ehebruch ertappt worden ist. Im alten Israel stand darauf die Steinigung. Eine besonders brutale Variante der Todesstrafe. Die Gelehrten konfrontieren Jesus: „Steinigung sagt das Gesetz. Was sagst Du?“, fordern sie ihn heraus. Die Stimmung ist höchst aufgeladen. Spannung liegt in der Luft. Hier geht’s um alles oder nichts.

Und dann das Überraschende. Jesus lässt sich nicht provozieren. Er schweigt, geht in die Hocke und schreibt mit dem Finger auf die Erde. Was er schreibt, wissen wir nicht. Ein leichter Windhauch, ein Fußtritt und die Schrift ist dahin. Der Text längst vergangen. Geblieben ist die Szene. Jesus nimmt sich einen Freiraum, wo keiner ist. Warum tut er das? Vielleicht um Zeit zu gewinnen, um für sich etwas klar zu bekommen, oder um seine Gegner zu provozieren?
Jesus macht das ständig – sich rausnehmen. Auf Berge, in die Wüste, auf ein Boot. Er nimmt sich Freiräume, die nichts mit Faulheit oder Lustlosigkeit zu tun haben, sondern mit Vergewisserung. Zögern, überlegen, einer angespannten Situation entfliehen, in die Hocke gehen, sich besinnen, zur Ruhe kommen – das ist wahre Größe. Das übliche Handlungsmuster, vorschnell zu antworten, durchbrechen und stattdessen Ratlosigkeit zulassen – das ist keine Flucht, das ist eine große Kraft­anstrengung.
Plötzlich steht Jesus auf, spielt den Ball an seine Gegner zurück und sagt: „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe den ersten Stein.“
Ich hätte gern von ihm gehört: „Jeder Mensch hat ein Recht auf Leben.“ Oder waren das die Worte, die er auf die Erde geschrieben hatte?

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Sandra Biebl

Pastoralassistentin

Kath. Kirchengemeinde St. Markus

Schwäbisch Hall