Wer singt, betet doppelt
Juli 4, 2020

Wer singt, betet doppelt

Das Lob Gottes soll also auch Freude bereiten, da die Freude die Liebe weckt – dem dient letztlich der Gesang.

Immer wieder wird ein geflügeltes Wort Augustinus zugeschrieben: „Wer singt, betet doppelt.“ Wenn im Gottesdienst wieder einmal eines der eigenen Lieblingslieder aus dem „Gotteslob“ oder einem anderen Gesangbuch gesungen wird, wird sich dieser Satz gefühlsmäßig für so manch einen bewahrheiten, da die Freude am geliebten Gesang auch das Herz in Wallung bringt und die Unmittelbarkeit des Gefühls auf eine Unmittelbarkeit zu Gott schließen läßt. Aber ist dieses geflügelte Wort tatsächlich zutreffend? Betet doppelt, wer singend betet? Diese Frage stellt sich v.a. in Zeiten, in denen aus Hygienegründen wegen einer viralen Krankheit nicht von der Gemeinde in den Kirchen gemeinsam gesungen werden darf: Wird jetzt nur mit der Hälfte der sonst üblichen Wirksamkeit gebetet? Oder benötigt es nun das doppelte der Zeit, um auf dieselbe Gebetswirkung zu kommen? Die Frage ist schlicht falsch gestellt, weil sie des Menschen Gebet und Gottes Wirken fälschlich mit einer simplen Mathematik in Verbindung bringt. Und es geht auch nicht um die Wirksamkeit, die sich verdoppelt, sondern um etwas anderes.

Die Aussage mit dem doppelten Beten stammt nicht von Augustinus, sie lässt sich in seinem Werk nicht finden. Wer aber den Satz doch inhaltlich rechtfertigen will, kann durchaus bei Augustinus Argumente dafür finden. So sagt Augustinus etwa einmal in einer Psalmenauslegung: „Wer Lob singt, singt nicht nur, sondern liebt auch den, dem er singt.“ Ein weiterer berühmter Satz in Augustins Beschreibung der Entwicklung seines inneren Lebens, in den Bekenntnissen, bestätigt das: „Du willst, dass es Freude bereitet, dich zu loben, denn du hast uns zu dir hin geschaffen und ruhelos ist unser Herz, bis es ruht in dir.“ Das Lob Gottes soll also auch Freude bereiten, da die Freude die Liebe weckt – dem dient letztlich der Gesang.

Bei allem Lob des Gesangs ist Augustinus zugleich ein zu feinfühliger Denker und Beobachter seiner selbst, um nicht auch die möglichen Gefährdungen mitzubedenken. So schildert er, wie er einerseits tief berührt wurde vom Gesang in der Kirche: „Die Lieder drangen an mein Ohr, und die Wahrheit flößte sich ins Herz, und fromminniges Gefühl wallte über“. Und wie andererseits doch bisweilen beim Erleben des Gesangs das sinnliche Moment den Sieg über die Vernunft davonträgt, sodass der eigentliche Sinn und Zweck des gesungenen Wortes, die Mitteilung der göttlichen Wahrheit, nicht erreicht wird, sondern ein emotionales Drehen um sich selbst. Zugleich weiß Augustinus, der Autor dutzender Bücher, jedoch auch um die Unzulänglichkeit der menschlichen Worte und damit auch der Vernunft, wenn es um Gott geht, der größer ist als die menschliche Sprachfähigkeit: „Singe in Jubel. Denn gut für Gott singen, das heißt jubelnd singen. Was ist das, jubelnd singen? Einsehen, dass wir doch nicht mit Worten ausdrücken können, was da in unserem Herzen singt.“

Somit bleibt es letztlich dabei wie es Augustinus einmal in einer Predigt sagt: „Singen ist Sache der Liebe“. Wenn das wahr ist, dann ist auch endlich der „Amateur“ (franz. für Liebhaber) in sein Recht gesetzt. Denn es geht beim singenden Beten nicht um Professionalität, oder höchstens insofern sie Ausdruck der Hingabe des Liebenden ist. Und in diesem Sinne betet doppelt, wer singend betet. Und in Corona-Zeiten dürfen wir ergänzen: wer den Gesang in sich wirken läßt, den vielleicht ein kleiner Chor in Stellvertretung für alle vorträgt.

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Michael Gerstner

Leiter und Geschäftsführer der keb Katholische Erwachsenenbildung Kreis Schwäbisch Hall

Studium der Katholischen Theologie und der Philosophie in Jerusalem, München und Tübingen. An meiner Tätigkeit gefällt mir, dass ich Ideen in die Tat umsetzen kann, dass ich interessante Menschen zu Vorträgen einladen darf, dass ich Gespräche moderieren und mit Teilnehmern ins Gespräch kommen kann, dass ich auch selbst Impulse setzen darf und Vieles mehr!
Ich bin verheiratet mit einer Religionslehrerin. Wir haben zwei Kinder und leben in Crailsheim.

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