Wach und nüchtern
November 17, 2023

Wach und nüchtern

Erinnern und Gedenken - Lasst euch nicht den Kopf vernebeln durch menschenverachtende Parolen.

„Weißt du noch?“ Es sind oft ganz besondere Momente, wenn es in einem Gespräch plötzlich so heißt: „Erinnerst du dich noch, damals…?“

Wenn es etwas Angenehmes ist, das uns wieder in den Sinn gekommen ist, schwelgen wir in Erinnerungen, wie man so schön sagt. Und wenn es eher negativ besetzt ist, dann geht vielleicht ein Schaudern durch unseren Körper, weil die unangenehmen Gefühle, die damit verbunden waren, uns wieder streifen.

Die Erinnerung holt Vergangenes wieder her, in unsere Gegenwart: Menschen, Dinge, Erlebnisse… Es ist eine ganz wertvolle menschliche Fähigkeit, das Sich-Erinnern-Können. Denn was vergangen ist, ist ja nicht immer einfach „Schnee von gestern“, sondern hat oft Bedeutung, eine Botschaft für uns, für mich, für heute. Erinnerungen verbinden die Gegenwart mit der Vergangenheit, und manchmal können sie sogar helfen, die Zukunft zu gestalten: Wir wissen ja jetzt vielleicht, wie Schönes zustande kam oder ahnen, wie Schlechtes vermeidbar gewesen wäre.

Morgen begehen wir den Volkstrauertag. Seit 1952 erinnern wir uns an diesem staatlichen Gedenktag gemeinsam an die Kriegstoten und die Opfer der Gewaltherrschaft aller Nationen.

Tage wie der Volkstrauertag helfen mit zu verhindern, dass weder die vergessen werden, die Opfer wurden und die gestorben sind, noch die Umstände, unter denen das geschah. Und dadurch können sie uns auch dabei helfen, bewusst eine gute, lebenswerte Zukunft zu gestalten.

In den katholischen Gottesdiensten wird morgen ein Abschnitt aus dem Brief des Apostels Paulus an eine seiner Gemeinden gelesen. Paulus schreibt: „So lasst uns nun nicht schlafen wie die anderen, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein.“ (1 Thess 5,6) Dieser Satz klingt für mich wie eine Aufforderung an uns heute, ganz passend zum Gedenktag morgen. Ich würde ihn so übersetzen: „Lasst euch nicht den Kopf vernebeln durch menschenverachtende Parolen, egal aus welcher Richtung sie kommen. Seid wach, seid wachsam und nehmt nüchtern wahr, wo sich Dinge abzeichnen, die schon einmal ins Verderben geführt haben.“

Und so könnten morgen, am Volkstrauertag, die Erinnerung an das, was geschehen ist in unserem Land und die Trauer über die Menschenleben, die es gekostet hat, zum Nährboden werden für eine Hoffnung: für die Hoffnung, dass wir heute – wach und nüchtern – andere und bessere Wege finden können, unsere Gesellschaft zu formen und zu gestalten, als Gewalt und Hass, und friedlich durchsetzen, was einem guten Zusammenleben dient.

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Gabriele Hüben-Rösch

Pastoralreferentin, Kath. Klinikseelsorgerin im diakoneo Schwäbisch Hall

 

Gabriele.Hueben-Roesch@drs.de