Was wir wahrnehmen können wir annehmen
März 31, 2023

Was wir wahrnehmen können wir annehmen

In der Fastenzeit und darüber hinaus geht es nicht um das Wegstreichen der eigenen Realität oder Verdrängung des Alltags, sondern um die bewusste Annahme der eigenen Person und um die wache Wahrnehmung der eigenen Lebenswirklichkeit.

Der Mathematiker und Naturwissenschaftler Georg C. Lichtenberg, der im 18. Jahrhundert lebte, schrieb einmal: „Bei manchem Werk eines Menschen möchte ich lieber lesen, was er weggestrichen hat, als was er hat stehen lassen.“ Lichtenberg liebte die privaten Aufzeichnungen über alles, für die es nur das Gebot der Wahrhaftigkeit gibt.

Wenn wir am Ende eines Tages oder am Ende einer Woche in dieser Fastenzeit aufschreiben dürften, was uns widerfahren ist und was wir für Gedanken hatten in dieser Zeit und unseren Blick auf das Schöne lenkten, was gut war, es würde so einiges zusammenkommen. Dazu käme in dieser Rückschau so manche Eigenheit von uns zum Vorschein, die uns schwerfällt und in der wir ein Problem sehen und die uns ständig hindert auch einmal anders zu handeln. Nach der eigenen Niederschrift von allem erginge auch an uns die Frage, wo würde ich etwas wegstreichen wollen, was so nicht in mein Bild von mir passt.

Was würde von der Ur-fassung meiner Fastenzeitbetrachtung überhaupt noch stehen bleiben? Natürlich, um noch einmal den Gedanken Lichtenbergs aufzugreifen, kann das Weggestrichene spannender und aufschlussreicher für mich selbst sein, als das selbstverständlich Stehengelassene. Das Anschauen des Weggestrichenen kann helfen, mich besser kennenzulernen mit all meinen Seiten und diese Erfahrungen, seien es erfreuliche oder entmutigende, darf ich besonders im Gebet vor Gott bringen. Das Weggestrichene ist vielleicht der eigentliche Weg zu mir selbst.

Im Buch Numeri (Num 21,8-9) lesen wir, wie Mose im Auftrag Jahwes die kupferne Schlange an eine Fahnenstange hängt. Wenn ein Israelit in der Wüste von einer Schlange gebissen wurde und zu der Kupferschlange aufblickte, blieb er am Leben.

Diese Bild wird im Johannesevangelium wieder aufgegriffen. Sowohl die Erfüllung der Sendung Jesu in seinem Kreuzestod wie auch diese als Sieg der Liebe Gottes zur Welt, finden in diesem Evangelium ihren Ausdruck darin, dass die Kreuzigung Jesu selbst als seine Erhöhung verstanden wird.

Beim Anblick des Kreuzes und durch die eigene Umkehr kann man sich befreien lassen von den eigenen lähmenden Zwängen. In der Fastenzeit und darüber hinaus geht es nicht um das Wegstreichen der eigenen Realität oder Verdrängung des Alltags, sondern um die bewusste Annahme der eigenen Person und um die wache Wahrnehmung der eigenen Lebenswirklichkeit.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie beim Anschauen des  enthüllten Kreuzes etwas von der befreienden, erlösenden Kraft Gottes auch in Ihrem Alltag finden können.

 

Bild: Peter Weidemann   In: Pfarrbriefservice.de

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Sebastian Kothe

Pfarrvikar - Dekanat Schwäbisch Hall

wohnhaft in Michelfeld

sebastian.kothe@drs.de