Wunder und Grausamkeiten
Juni 7, 2020

Wunder und Grausamkeiten

Wäre Humanität deutscher Spargel, wir hätten sie uns längst gegönnt. Wie umgehen mit der Ungerechtigkeit, der Ungleichheit. vielleicht mit: Sei gut, Mensch!

Es ist ein schöner frühsommerlicher Abend. Die ersten Corona-Schrecken sind etwas abgeklungen und ich genieße nach vielen Wochen den ersten frühsommerlichen Abendspaziergang durch die Stadt, die sich wieder ein wenig Normalität zurückerobert hat. Menschen auf den Straßen, in den Cafés, fast kommt so etwas wie Leichtigkeit auf. Da fällt mein Blick auf die gegenüberliegende Mauer auf der anderen Kocherseite:

„Wäre Humanität deutscher Spargel, wir hätten sie uns längst gegönnt“ ist in großen Lettern an der Ufermauer zu lesen. Aus die Träumerei, vorbei das sich anbahnende Gefühl der Leichtigkeit. Die Realität schlägt zu. Ja, während ich hier flaniere, rackern sich rumänische Arbeitsmigrant*innen ab, damit die Spargelernte gut über die Bühne geht. Ja, während ich hier flaniere, sitzen in Moria die Menschen dicht an dicht in ihren selbst gezimmerten Hütten und Zelten und hoffen, dass sich dieses Europa an seine großen Versprechen von Solidarität und Menschenrechtsschutz erinnert und sie aus diesem Elend holt, in dem es ihnen wie blanker Hohn vorkommt, dass sie doch Abstand halten mögen. Ebenso wie den Bewohner*innen der Landeserstaufnahmeeinrichtung in Ellwangen und anderswo. Während ich hier flaniere, werden im angeblich sicheren Herkunftsland Afghanistan dutzende Menschen bei Attentaten umgebracht……diese Liste wäre endlos weiter zu führen.

Während wir am Anfang der Krise vielleicht noch dachten, dass wir doch alle im selben Boot sitzen, dass uns diese Krise alle gleich trifft und vielleicht auch irgendwie wieder ein bisschen „gleicher“ macht, während es uns scheinbar leicht fiel Solidarität zu zeigen und zusammen zu halten, so scheint es nun, dass all dies Woche für Woche bröckelt, dass sich wieder all das zeigt, was vorher auch schon war und nun noch verstärkt wird. Da gibt es nun die, die Zeit haben für Entschleunigung und die den Kaffee im Home-Office genießen. Da gibt es die, die nicht mehr wissen, wo oben und unten ist, weil sie Kinderbetreuung und Arbeit irgendwie unter einen Hut kriegen müssen, während auf einmal alle Unterstützungssysteme ausfallen. Da gibt es die, die um ihren Job fürchten oder ihn schon verloren haben und die, die wegen der Kurzarbeit nicht mehr wissen, wie sie ihre Rechnungen begleichen sollen. Da gibt es die, die unter all diesem Weltschmerz zerbrechen und sich fragen, ob es sich eigentlich noch lohnt in dieser Welt zu leben. Da gibt es die, die sich nicht mehr aus dem Haus trauen, die, die von der Digitalisierung schon vor Corona abgehängt waren, diejenigen, die…

Wie umgehen mit all dieser Ungerechtigkeit, dieser Ungleichheit, diesem „oben“ und „unten“? Darf ich mich noch freuen, wenn es mir gut geht, wenn ich in all diesem Wahnsinn etwas Schönes erkenne und erlebe, ein persönliches Wunder? Wenn ich Freude habe, an all dem Guten, was in den letzten Wochen auch entstanden ist, an der Kreativität, die freigesetzt wurde und zur Ermutigung beigetragen hat? „Du kannst in dieser Welt nur leben, wenn du sie zu deiner Geliebten machst. Sie mit diesen Wundern und Grausamkeiten annimmst und zwischen beiden das Gleichgewicht findest. Sonst wirst Du sie nicht so verlassen können, wie Du es vorhast – laut lachend auf einem silbernen Vogel fliegend und bis zum Rand erfüllt mit allem, was sie dir zu bieten hatte.“ „So schreibt der Schriftsteller Janosch. Ich finde ihn weise, diesen Rat und doch greift er mir zu kurz, bezieht er mich und dich nicht als aktives Wesen mit Handlungsmöglichkeiten ein: ja, ich will und muss annehmen, dass es in dieser Welt immer beides gab und immer beides geben wird- Wunder und Grausamkeiten und dass ich Teil davon bin.

„Sei gut, Mensch!“-ist der Titel der diesjährigen Caritas-Kampagne und genau das ist es: ich brauche den Appell, den Hinweis auf meine Handlungsmöglichkeiten und -verantwortung-trotz aller Ohnmachtsgefühle angesichts des Weltgeschehens hier vor Ort und weltweit. Ich muss ihn immer wieder hören, muss erinnert werden. Und das verändert. Die Welt und mich.

Anregungen für „Gut-Mensch-Aktionen“ finden Sie z.B. auf der Homepage der Caritas unter https://www.caritas.de/magazin/kampagne/sei-gut-mensch/startseite.

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Franziska Kießling

Allgemeine Sozialberatung in den Caritas-Zentren Schwäbisch Hall und Crailsheim

 

kiessling.f@caritas-heilbronn-hohenlohe.de